„In der Sinti-Musik schwimme ich gerne“

Ein Porträt über Bernd Thiele

Ein „Camembert“ unter Zigeunern
Seerosen schwimmen sanft auf der glatten Oberfläche des Wassers. Delphine planschen im Wasser. Die Seerosenblätter sind riesengroß. Gemächlich schippert die „Estonia“ den Urwaldfluss hinauf. An Bord spielt eine Combo. Die Einheimischen bitten den Mann am Keyboard, die Rhythmen schneller zu spielen. Das gefällt ihm, im Land des Sambas. Suspekt erscheint ihm hingegen, was die deutschen Touristen an Bord fordern. „An der Nordseeküste“ soll er spielen. Er tut es, weil es das Arrangement verlangt.

Entspannt sitzt Bernd Thiele am Keyboard, bei sich zu Hause im Arbeitszimmer. Per Knopfdruck lässt er einen Rhythmus entstehen. Leicht fliegen seine Finger über die Tasten. „Unchain my heart“, brummt er. Joe Cocker, Marius Müller Westernhagen und Frank Sinatra gehören zu seinem Repertoire. Gerne würde er seine eigenen Songs spielen, von denen er etliche komponiert hat. „Aber die will keine Socke hören“, lacht er. Stattdessen verstauben sie auf Hunderten Kassetten irgendwo im Keller. „Wir spielen Internationale Tanzmusik. Viel mainstream, weil wir davon leben. Die Kreativität wurde dem Geldverdienen untergeordnet.“

Beim Reden dirigieren seine Hände die Worte. Lid und Augenbrauen verbinden jeweils eine kleine diagonale Falte. Darunter strahlen kleine Augen. Trotz seiner über 50 Jahre wirkt er jung und sportlich, trägt ein blau kariertes Hemd, eine Jeans und Hausschuhe. Lediglich ein paar graue Strähnen im dunklen, kurzen Haar verraten sein Alter. Eigentlich hatte Bernd Thiele blondes Haar. Irgendwann hat er es sich dunkel gefärbt, damit er nicht wie ein „Camembert“ zwischen den Zigeunern wirkt. Er setzt eine Brille auf die Nasenspitze und holt einige Fotos hervor.

Die Bilder zeigen die „Jo Reinhardt Combo“ samt aufgebauter Musikanlage. Die Combo ist eine lokale Größe im Norddeutschen Raum. Sie wird als gute Coverband bei großen Bällen und Feiern engagiert, weil sie im Gegensatz zu den großen Stars bezahlbar ist. „Alles eine Frage der Gage“, sagt Bernd Thiele. Die Zahl der Auftritte pro Jahr sank von früher 50 bis auf knapp 30 heute. Eigene Produktionen? Alles nichts geworden, „weil wir nicht gut genug sind.“, sagt er „Oder weil wir nicht die Leute haben.“ Er hat sich damit abgefunden. „Wer will noch einen Über-50-jährigen im Musikgeschäft?“, fragt er. „Man konnte die ganzen Jahre gut von der Musik leben. Jetzt ist es ein bisschen enger geworden.“ Die Zahl der Auftritte möchte er bis zur Rente halten, also noch einige Jahre.

Eine Banklehre als Fundament
Im Carport steht ein Van mit abgedunkelten Fenstern. Dieser transportiert, in Koffern verstaut, die Musikanlage. Keyboards, Rhythmusmaschine, Verstärker und Gesangsanlage. Stolz zeigt Bernd Thiele die Beatle-Bassgitarre mit den Initialen von Josef Reinhardt. Neben ihm ist Thiele der zweite Bandleader der Combo. Manchmal treten sie im Hamburger „Pfeffersack“ auf, oder im „Schulauer Fährhaus“.

Im Keller, einem ehemaligen Luftschutzbunker, befindet sich das Arbeitszimmer. An den Wänden hängen Schwarzweißfotos der Familie. In einer Ecke steht ein Bett, mitten im Raum das Keyboard Marke „Yamaha“. Wenn „seine Frau ihn lässt“, verbringt er viel Zeit beim Üben. Hier arrangiert er Tonfolgen bekannter Lieder.

Bernd Thiele stammt aus einer hanseatischen Kaufmannsfamilie. Die Familie unterstützte den Wunsch des Jungen, Musiker zu werden. Zuvor jedoch sollte eine solide Ausbildung her. So lernte er drei Jahre bei der Handelsbank in Lübeck. Zur Musik kam er früh. 1958 sang er mit neun Jahren in der Lübecker Knabenkantorei. „In den 1950er und 60er Jahren eine unheimlich bekannte evangelische Chorgruppe.“, sagt er. Dort nahm er sechs Jahre Gesangsunterricht. Bis April 1977 war er in einer Bank tätig, unter anderem auf der Reeperbahn, und als Kassierer im Freihafen. Nebenher begann er ein Abendstudium bei der Schleswig-Holsteinischen Musik- und Orgelakademie zu Lübeck. Seit 1977 ist er selbstständiger Musiker.

Tragen Seerosenblätter einen Menschen?
Neben dem Modell der „Titanic“ wirkt das der „Estonia“ winzig, obwohl das Original knapp 150 Meter Länge misst. Früher hat Bernd Thiele Modellschiffe aus Papier gebaut. Zwei von ihnen stehen auf der Vitrine im Wohnzimmer. Mit der echten „Estonia“ fuhr er musizierend den Amazonas flussaufwärts bis nach Manaus. In der Nähe von Santarém erblickte er gigantische Seerosenblätter.

Eine Rose steht in einer Glasvase auf der Fensterbank. Bernd Thiele trinkt Kaffee mit Milch. „Ich hab immer Tanzmusik gespielt“, sagt er „Deutsche Schlager, nachher Beatles und Stones. Schön rockig. Und Swing. Ich liebe Swing über alles. Die Jazzgeschichten kamen nachher. Aber viel später. Mit den Zigeunern.“

„Gypsy-Musik machen wir als Hobby“, sagt Bernd Thiele „Die wollen nur die Gypsies hören.“ Es war schon immer so. Hobby und Beruf lassen sich nicht vereinen. Im fünften Semester warf der Professor ihn von der Uni. „Weil es verpönt war Tanzmucke zu machen.“ Er war Klassik-Student, Klavier und Gesang. „Und immer wieder hat er rausgekriegt, dass wir mit der Combo ,Succi‘ Tanzmucke gespielt haben, auf der ,Passat‘ im Laderaum II.“

„So ist das mit der Musik“, sagt Bernd Thiele „Du schwimmst in einem Süßwassersee, wo Delphine plätschern. In der Sinti-Musik schwimme ich gerne.“

Freitag zieht die „Jo Reinhardt Combo“ wieder los. Dann spielen sie in einer Kleinstadt auf der Hochzeit von einem Wohlhabenden. „Der möchte Curtis Stygers ,I wonder why‘ als Ehrentanz.“, sagt Bernd Thiele. Er geht also ins Musikgeschäft, holt sich die Noten und die CD. Dann hört er sich den Song ein paar Mal an, spielt ihn nach. Er versucht ihn zu singen, auf jeden Fall besser, als die Jungs bei „Deutschland sucht den Superstar“.

Frank Ahrends - Feuilleton HA Nov. 2007